1 ist zu viel – 1000 sind zu wenig

1 ist zu viel – 1000 sind zu wenig

FdH (Friss die Hälfte) solle ich machen, einfach mal eine Mahlzeit weglassen, in Maßen essen, ein bisschen Selbstkontrolle zeigen, mehr Willenskraft haben oder mich einfach mal zusammenreißen. Das ist doch wahrlich nicht so schwer!

Ich weiß nicht wie oft ich diese Ratschläge von beratenden oder kritischen, als auch von wohlmeinenden Stimmen gehört habe. Doch weil ich nicht aufhören konnte zu essen – egal wie viel Willen ist gezeigt habe, ich bin immer gescheitert – war meine abwertende Schlussfolgerung irgendwann eben „dumm, faul und dick“ zu sein.

Heute beginne ich so langsam zu verstehen, dass in meinen Bemühungen „normal“ zu sein, mein Wille stärker als der von vielen Menschen war und meine Selbstkontrolle immer eisern. Ich beginne zu verstehen, dass das Verlangen nach meiner Droge „Essen“ größer war (und immer noch ist) als meine Intelligenz, mein Wissen und mein Wille. Und ich lerne gerade erst, dass ich, ähnlich einem trockenen Alkoholiker, zu 100 % abstinent sein muss von den Stoffen oder Gelegenheiten, die mein Verlangen nach immer mehr anstacheln.

Nicht jeder, der gerne isst, der Essen genießt und hin und wieder über die Stränge schlägt, hat ein Sucht-Problem mit Essen. Vielmehr ist es ein Spektrum, dessen eines Ende „Essen bei Hunger und zum Genuss“ anzeigt und dessen andere Ende „Essen als Droge“ aufweist.

Getrieben von einer ganzen Industrie, die alles daransetzt, für den maximalen Umsatz den perfekten Genussmoment zu schaffen, sind die Menschen, die essen, wenn sie Hunger haben und aufhören, wenn sie satt sind und darüber hinaus keine Probleme mit Essen haben, zu seltenen Exemplaren geworden. Wie viele Menschen können schon eine Tüte Chips nach einer Handvoll wieder verschließen? Wie viele Menschen bleiben bei einem Stück Schokolade?

Wer isst, wenn er Hunger hat und aufhört, wenn er satt ist, wer zum Kaffee nur zwei Kekse aus der Verpackung nimmt, den Schokoladen-Osterhasen im Schrank vergisst oder die Weihnachtsplätzchen erst wieder zu Ostern findet, für den ist Essen vermutlich neutral und hat keine Bedeutung über das Ernähren und etwas genießen hinaus. Diese Menschen können in Moderation essen, sie nehmen mit kalorienreduzierten Diäten ab, können ihr Gewicht in der Regel gut halten und sind vermutlich auch erfolgreich darin ihr Gewicht nach einer bariatrischen OP zu halten.

Ich gehöre nicht zu diesen Menschen. Essen ist nicht nur meine Droge, sondern auch mein emotionales Management. Ich esse gegen Stress an, aus Freude, bei Trauer und gegen Ärger. Ich esse aus emotionalen Gründen und ich esse, weil es für mich nur vollgestopft eine Erlösung gibt. Ich esse um die Welt „zu überleben“.

Darüber hinaus beherrscht die Planung, die Beschaffung, das Essen und die Methoden, die ich zur Regulation meines Über-Essen anwenden kann, meine Gedanken, von dem Moment, an dem ich aufwache, bis zu dem Zeitpunkt, an dem mich endlich seliger Schlaf davon erlöst. Ich leide unter einer krankhaften Fixierung auf mein Körpergewicht, unter dem Zwang alles in Kalorien zählen zu müssen und darunter meine Mahlzeiten so lange „für später aufzuheben“, bis ich aus rasendem Hunger alles Greifbare in mich hineinwerfe. Fatalerweise deklariere ich das dann als „Snack“ oder „Vorspeise“ und schiebe die anstehende Mahlzeit noch hinterher. Ich habe ein Problem mit Supermärkten: selbst wenn ich gut vorbereitet hingehe (mit Einkaufszettel und gesättigt), sind Süßigkeiten- und Snack-Regale, Nudeln, Backzutaten oder Kühlregale mit Milchprodukte der pure Stress für mich.

Die Wissenschaftlerin Dr. Vera Tarman schreibt in ihrem englischsprachigen Buch „Food Junkies“ davon, dass Suchtkranke mehr wollen als realistisch möglich ist (Serotonin fehlt) und nichts genug ist (zu viel Dopamin). Die Quelle dafür ist das Belohnungssystem im Gehirn (weil dort Dopamin ausgeschüttet wird). Wichtig dafür sei die Potenz der Stimulanz. Nach dem Motto: “Candy is fast, cocaine is faster“, reagiert unser Belohnungssystem darauf, wie extrahiert (zb. hochraffinierter Zucker, in besten Fall zusammen mit Anteilen von Fett und Salz, wie in Kartoffelchips oder Snickers) ein Stoff ist. Umso schneller er aufgenommen wird, umso schneller und umso mehr Dopamin wird vom Belohnungssystem ausgeschüttet. Sucht, so schreibt Tarman, ist das Versprechen einer großen Belohnung. Abhängigkeit ist ein „nie genug davon zu haben“. 1 ist zu viel – 1000 sind zu wenig.

Ich habe immer erklärt, dass ich Essen eben lieben würde und gerne koche und noch lieber backe. Heute hört sich das für mich zweifelhaft an. Ich will mein Essen nicht lieben, ich will, dass mich mein Essen nährt und mir Kraft und Energie für den Tag gibt. Essen ist keine Unterhaltung, Essen ist Energie. Aber schmeckt das dann auch? Ja, wenn der Kopf klar ist und der Geschmack unverfälscht. Keine Lust auf Brokkoli mit Ei? Gut, dann hast du vermutlich keinen Hunger!

Tatsächlich habe ich bis kurzem nicht wirklich verstanden, was das für mich bedeutet. So fing ich in den ersten Jahren nach meiner Adipositas-OP an zu glauben „über den Berg zu sein“ und von meiner Sucht nach Essen geheilt zu sein. Alte Muster haben sich eingeschlichen und ich fing an mich erneut den Stoffen auszusetzen, die dieses nicht endend-wollende Verlangen in mir entfachen.

Ich habe meinen – lebenslangen – Heilungsprozess damit gestartet meine Körperwaage feierlich zum Alt-Schrott zu tragen. Ich habe angefangen, konsequent alle Lebensmittel aus meiner Ernährung rauszustreichen, nach deren Genuss ich den Verdacht habe, „außer Kontrolle“ zu geraten. Ich arbeite täglich daran regelmäßig zu essen und keine Mahlzeit mehr vor mir herzuschieben und durch Snacks zu ersetzten. Ich verstehe heute, dass die Impulse Essen als Droge zu verwenden immer vorhanden sein werden. Aber auch, dass ich keine Schuld an meiner Sucht trage. Es liegt jedoch in meiner Verantwortung, so erklärt Tarman, zu verhindern, dass ich den ersten Bissen nehme.

Meine persönliche Liste führt aktuell folgende Trigger auf:

  • Buffets oder eine große Auswahl an Essen auf einem Tisch
  • Mahlzeiten bewusst vor mir herschieben, untermauert mit dem Glaubenssatz: es noch nicht „verdient“ zu haben zu essen
  • übertriebene Sporteinheiten (die mit der Intension gestartet wurden, überschüssige Kalorien auszumerzen)
  • andere etwas Essen sehen
  • Rohkost
  • breiiges und gesüßtes, wie Haferflockenporridge oder eingeweichtes Müsli
  • cremiges und gesüßtes, wie Nuss-, Vanille-, Milch-, Schokoladen- oder Kokoscremes
  • alle Suppen
  • (gesüßte) Milchprodukte, wie Quark, Joghurt, Pudding oder Eis, aber auch Käse, Frischkäse, Crème fraîche usw.
  • Zucker und Süße in allen Formen, raffiniert, natürlich oder künstlich
  • getrocknete Früchte, wie Rosinen, Feigen oder Datteln
  • alle Weizen und Weizenprodukte
  • Kartoffeln, sowie einzelne stärkehaltige Gemüse
  • paniertes und frittiertes, wie Pommes, Schnitzel oder Backcamembert

Lesetipps dazu:

Dr. Vera Tarman – Food Junkies (englischsprachige Ausgabe)
Dr. Susan Peirce Thompson – Abnehmen mit Köpfchen (deutschsprachige Ausgabe)